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Gaming: Rainbow Six Siege | ZEIT ONLINE - ZEIT ONLINE

Ich fröne der Gewalt, stundenlang, zusammen mit meinen Freunden. Wir schrauben explosive Fallen an Türrahmen, sprengen metallverstärkte Wände und schmeißen Granaten ins Schlafzimmer, weil wir hinter dem Bett den Feind vermuten. Je mehr Kills, desto besser.

Jeden Sonntagabend sitzen wir vor unseren Playstations, mit den Headsets auf den Ohren, wir zocken den Egoshooter Rainbow Six Siege. Über 1.000 Stunden, insgesamt fast 45 Tage lang, habe ich schon mit dem Spiel verbracht. Wir spielen auch mal unter der Woche, aber der "heilige Sonntag" ist gemeinsame Tradition. So höre ich die Jungs alle paar Tage, auch wenn ich sie nur selten sehe. Schließlich wohnen sie in Münster, München oder Kaarst.

Ein Spiel in Rainbow Six Siege dauert maximal neun Runden, immer Fünf gegen Fünf. Zu Beginn jeder Runde hat das fünfköpfige Team im Inneren des Gebäudes 45 Sekunden Zeit, zwei Bomben gegen einen bevorstehenden Angriff zu schützen. Sie legen Fallen, rollen Stacheldraht aus und verriegeln Zimmertüren. Danach startet das gegnerische Team. Sie haben nun drei Minuten Zeit, die Runde zu gewinnen: Entweder erschießen sie alle Spieler im Haus, oder sie schaffen es, neben einer der beiden Bomben einen Entschärferkoffer zu platzieren. Später wechseln die Rollen.

Soweit die trockene Theorie, der Reiz des Spiels ist ein anderer: Bei Rainbow Six Siege muss ich erahnen, was der Gegner vor hat und wo er lauert. Und ich muss ihn mit Spezialfähigkeiten überlisten. Jeder Charakter, genannt Operator, hat eine: Ein Operator kann Fußspuren scannen und so Feinde aufspüren, ein anderer kann fliegende Handgranaten in der Luft entschärfen.

Rainbow Six Siege ist wie das Brettspiel Stratego – bloß im Team und mit Kopfschüssen. Wir versuchen die Schritte der Gegner zu hören, das Geräusch berstender Fenster im richtigen Gebäudeteil zu verorten und warnen uns gegenseitig. Es sind drei Minuten purer Stress, eine Anspannung, die mich aufsaugt. Aber wenn es klappt, schießen Dopamin und Serotonin durch mein Gehirn.

Wir kämpfen auf einem verwaisten japanischen Wolkenkratzer oder in einem schneebedeckten Chalet in den französischen Alpen. Wir, das sind mein Bruder, zwei seiner Freunde und die beiden Jungs, mit denen ich schon als Fünftklässler auf dem Schulhof stand. Fünf von sechs haben meistens Zeit. Heute trennen uns Hunderte Kilometer, wenn wir miteinander spielen. Längst studieren wir, sind Journalisten oder Lehrer. Wir treffen uns an den Playstations zum Ballern statt in der Bar zum Bier. Zwischen den Spielrunden erzählen wir uns, wie es der Freundin geht oder die Wohnungsrenovierung läuft. Und als sich im Frühling das Leben nur noch zu Hause abspielte, fühlte sich manch langer Abend vor der Konsole so gut an wie eine Kneipentour vor Corona.

Wir gewinnen zusammen und wir verlieren zusammen, die Freunde meines jüngeren Bruders sind durchs Zocken auch meine geworden. So ist das im Teamsport. Als wir über Weihnachten alle zeitgleich zu Hause am Niederrhein waren, trafen wir uns zum Mannschaftsabend und klügelten neue Taktiken aus.

Wenn sonntags gezockt wurde, musste meine Freundin am Anfang unserer Beziehung um 20 Uhr die Wohnung verlassen, besser noch die Straße. Damit sie das nicht erlebt, damit sie mich nicht so erlebt. Wie ich vor dem Fernseher sitze, auf Köpfe schieße und schreie, wenn ich mal wieder nicht treffe. In dem Moment ist das mein voller Ernst, ich bin frustriert, wenn ich etwas verbocke. Wenn ich einen Gegner erschieße, der im Hinterhalt auf mich lauert, bin ich so aufrichtig schadenfroh, wie ich es ohne Headset nicht sein kann und will. Sonntagabends bin ich die schlechteste Version meiner selbst – und genieße das. Für drei Stunden interessiere ich mich für den Rückstoß verschiedener Sturmgewehre und brülle den Fernseher an.

Das Klischee des Gamers, der übergewichtige, schlecht riechende und einsame Junge, ist so alt wie überholt. Wir zocken nicht aus Mordlust. Durchs Spielen schalten wir ab, besiegeln das viel zu kurze Wochenende oder vergessen den Arbeitstag. Im Grunde geht es um nichts: Die nächste Runde startet spätestens in drei Minuten. Aber wenn ich weiß, dass der Typ hinter der nächsten Ecke mich umlegen will, schrumpft für einen Moment alles zusammen auf "Du oder ich?". Kurz geht es um alles, ich will einfach nur besser sein.

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