Es soll Menschen geben, die begeistert in Särgen und Mausoleen zur Probe liegen – für sie ist dieser Film mit einer Heldin, die in einer verblüffend schönen Gruft lebendig begraben ist, garantiert ein Genuss. Die Kinderpsychologin Anna Fox ist in »The Woman in the Window« offenbar aus ihrem Beruf ausgestiegen und hat mit der Welt abgeschlossen. Sie kann wegen einer Panikstörung nicht vor die Tür gehen, ihr Mann und ihr Kind sind irgendwo weit weg und von ihr getrennt, ihre Antidepressiva konsumiert sie gern mit Rotweinbegleitung.
Dafür sieht aber der Ort, an dem sich diese Frau vor der Welt verbarrikadiert hat, wie ein Innenarchitektur-Traum aus: Annas Grabkammer ist ein geräumiges Stadthaus in Manhattan, mit Holzböden und Stofftapeten, gemütlichem Sofa, Vintagemöbeln, kuscheligem Riesenbett und einer schnurrenden Katze. Ein Hygge-Idyll, wie aus Magazinen der Sorte »Elle Decoration« oder »Country and Town House« abfotografiert.
Viel Seufzen, Zittern und mit dem Psychiater telefonieren
Der Regisseur Joe Wright, dessen bekanntester Film bislang wohl »Abbitte« aus dem Jahr 2007 ist, hat einen Bestsellerkrimi des US-Autors A.J. Finn verfilmt. »The Woman in the Window« war als Kinoprojekt mit Starbesetzung geplant und ist nun als Streamingpremiere auf Netflix angelaufen. Amy Adams spielt die Frau in Bedrängnis. Eine Heldin, die sich gern alte Filme wie Alfred Hitchcocks »Das Fenster zum Hof« ansieht – und ähnlich wie der von James Stewart in Hitchcocks Film gespielte Mann auch bald glaubt, beim Blick aus dem Fenster Zeugin eines Verbrechens geworden zu sein.
Die Zuschauerinnen und Zuschauer sehen die Schauspielerin Adams ausgiebig zittern und seufzen, Rotwein trinken, mit Arzneidosen hantieren, mit ihrem Psychiater sprechen. Und sie blicken auf merkwürdig verruckelte Flashbackbilder, in denen sich die Heldin offenbar an ein schreckliches Geschehen erinnert.
Es gibt ein ganzes Kinogenre von Lockdown-Thrillern, die das Drama des Eingesperrtseins auswalzen. Anders als in Filmen wie David Finchers »Panic Room« aus dem Jahr 2002 oder Alexander Ajas »Oxygen« von 2020 findet in »The Woman in the Window« allerdings ein beherztes Kommen und Gehen statt. So hat Anna einen Mitbewohner (Wyatt Russell), der künstlerische Ambitionen hegt und eher unregelmäßig im Keller ihres Hauses wohnt.
Zudem öffnet die Heldin ihre Tür für den pubertierenden Sohn (Fred Hechinger) der neuen Nachbarsfamilie, begrüßt bald auch die leutselige Mutter des Knaben (Julianne Moore) und dessen grimmigen Vater (Gary Oldman). Im Grunde ist auch der telefonisch zugeschaltete Psychiater (Tracy Letts) dauerpräsent im Wohnhaus der Heldin, die von ihrem Fenster aus bald eine Bluttat zu sehen glaubt, die von den herbeigerufenen Polizisten (Brian Tyree Henry und Jeanine Serralles) für die Halluzination einer psychisch kranken Trinkerin gehalten wird.
Julianne Moore zieht eine nervöse Grimasse
Es ist ein Vergnügen, der Großdarstellerin Julianne Moore dabei zuzusehen, wie sie ihr Gesicht zu einer nervösen Grimasse verzerrt und ihre langen Glieder zappeln lässt. Es ist gruselig, den Starschauspieler Gary Oldman in der Rolle eines Geschäftsmanns zu betrachten, der seine Zähne im Mund so erfolgreich verbirgt, dass er wie ein Mümmelgreis wirkt. Und es ist Ehrfurcht gebietend, auf wie viele verschiedene Arten die Hauptdarstellerin Adams erschrocken dreinblicken kann. Nur leider: Wirklich spannend ist es nie.
Der Film »The Woman in the Window« will seinem Publikum Schrecken einjagen, hat aber stattdessen das Zeug dazu, es öfter – und höchstwahrscheinlich nicht freiwillig – zum Lachen zu bringen. Gerade die hochgelobte Schauspielerin Adams (»Arrival«) agiert hier in vielen Momenten mit derart wilder Ausdruckswut, dass sich beim Zuschauen manchmal die Halluzination einstellen kann, es sei gar nicht Adams, sondern die ihr ein wenig ähnelnde deutsche Kollegin Veronica Ferres, die sich hier um Gesten und Gesichtsausdrücke für maximale Angst und Seelennot bemüht.
Angeblich sollte »The Woman in The Window« ursprünglich schon 2019 ins Kino kommen. Im Netz kann man nachlesen, dass der Thriller nach mies bewerteten Testaufführungen wohl überarbeitet wurde. Als Krimistoff und Anregung zum entschlossenen Mitbibbern mag der Film eine Enttäuschung sein. Dafür gibt er den Zuschauerinnen und Zuschauern Gelegenheit, es sich einen Filmabend lang mit der Heldin Anna Fox sehr behaglich einzurichten. Und vielleicht über die Verschönerung des eigenen Wohnraums nachzudenken.
Im Abspann kommen sehr bald nach dem Namen des Regisseurs die Namen der Artdirektorinnen und der Ausstatterin, die vermutlich für die hier gezeigte Pracht verantwortlich sind. Sie heißen Deborah Jensen, Nithya Shrinivasan und Rena DeAngelo. Ich würde mir mein kleines Zuhause jederzeit hocherfreut von ihnen aufmöbeln lassen.
Anmerkung: In einer ersten Version dieses Textes hieß es, Alfred Hitchcocks »Das Fenster zum Hof« sei ein Schwarz-Weiß-Film. Tatsächlich wurde der Spielfilm aus dem Jahr 1954 in Farbe gedreht. Wir haben die entsprechende Stelle korrigiert.
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