Einen besser gelaunten Menschen als Efe Cakarel dürfte es in der Filmbranche zurzeit kaum geben. Beim Videocall in sein Londoner Büro lacht der Gründer und CEO der Streamingplattform MUBI immer wieder auf, während er von den Entwicklungen der vergangenen anderthalb Jahre erzählt: Seit Beginn der Pandemie haben sich die Nutzerzahlen von MUBI nach eigenen Angaben nahezu verdreifacht und liegen nun bei zehn Millionen weltweit. Dabei macht die Plattform nichts wesentlich anders als seit ihrer Gründung 2007. Sie zeigt einen neuen Film pro Tag, der dann für 30 Tage verfügbar ist. Das sind vor allem Klassiker wie Agnès Vardas »Cléo -Mittwoch zwischen 5 und 7«, aber auch neuere Produktionen von Autorenfilmern wie Lav Diaz.
Klar, Streamingdienste gelten als die großen Gewinner der Pandemie. Während die Kinos geschlossen waren, bingte die Welt Serien wie »The Mandalorian« und sorgte für Abo-Rekorde bei Netflix und Disney+. Doch seit einigen Monaten stagnieren die Zahlen bei den großen Digital-Anbietern, die Erfolgsmeldung der vergangenen Tage war eine klassische Boxoffice-Zahl: Knapp 50 Millionen Dollar spielte der Horrorfilm »A Quiet Place 2« in den USA zum Start ein. Und in Deutschland wird der Start der sogenannten Sommer-Berlinale wie ein Staatsakt zur Öffnung der Kultur gefeiert.
Ist das Kino also zurück? Sind die Streamingdienste in ihre Schranken verwiesen? Wer mit Kreativen spricht – etwa mit der Regisseurin Maria Schrader, die für ihre Netflix-Serie »Unorthodox« mit dem Emmy ausgezeichnet wurde, aber ihren neuen Film nun ins Kino bringt – für den ergibt sich ein anderes Bild. Kino und Streaming – das ist kein Gegeneinander, ist es vielleicht auch nur in der kämpferischen Rhetorik von Netflix-Chef Reed Hastings und Cannes-Leiter Thierry Frémaux. Vielmehr zeichnet sich ausgerechnet im Arthouse-Sektor eine neue Zweigleisigkeit ab, ein Nebeneinander mit überraschenden Synergien.
Am liebsten erst ins Kino
Zum Beispiel bei MUBI, wo man das vermeintliche Duell der Verwertungskanäle wie kein zweiter Streamer aufgelöst hat. »Jeder hat Netflix«, erklärt Cakarel die Positionierung seines Unternehmens. »Damit fängt deine ›consumer’s journey‹ an. Aber Netflix ist stark auf Fernsehen ausgerichtet, 75 Prozent der Nutzung besteht aus dem Konsum von Serien.«
Filme wie »The Irishman« oder »Marriage Story« habe man zwar auch im Angebot, aber vor allem um sich als Marke im Gespräch zu halten, wenn Filmpreise wie die Oscars anstehen. »Wenn du jenseits dieser sieben, acht Prestigetitel nach Filmen bei Netflix suchst, wird es sehr schnell sehr frustrierend: Verglichen mit ihrem Gesamt-Budget ist ihre Filmbibliothek sehr begrenzt.«
Aus cinephiler Sicht hat MUBI unbestreitbar mehr zu bieten als Netflix. Aber dass man mit Filmklassikern nicht stetig neue Nutzerinnen und Nutzer gewinnt, ist auch klar. Deshalb erweitert MUBI gerade sein Geschäftsmodell, ist in die Produktion und den Verleih eingestiegen, vor allem aber hat es im vergangenen Jahr angefangen, aktuelle Releases wie den Cannes-Preisträger »Bacurau« ins Angebot zunehmen.
Dass die angekauften Filme vorab im Kino laufen, ist bei MUBI erwünscht und nicht wie bei Netflix oder Amazon nur optional. »Das ist zum einen vorteilhaft, weil durch einen Kinostart Aufmerksamkeit entsteht und die mediale Berichterstattung gegeben ist«, sagt Cakarel. »Das sorgt dafür, dass Filme, die zuvor im Kino gelaufen sind, danach auf der Plattform auch öfters geschaut werden, als wenn sie ohne Kinostart exklusiv bei uns verfügbar sind.« Zum anderen würden mehr und mehr Filmemacher lieber zu MUBI kommen, wenn sie ihre Filme zuvor auf der großen Leinwand zeigen können, sagt er.
Die Bindung an den Kinobesuch ist bei MUBI so stark, dass man in Großbritannien und Indien bereits das Angebot »MUBI Go« eingeführt hat: Abonnentinnen und Abonnenten kriegen pro Woche ein Kinoticket für einen von MUBI ausgesuchten aktuellen Film geschenkt. Dabei muss es sich nicht um einen von der Plattform bereits angekauften Film handeln. Ende 2021 will MUBI das Angebot auch in Deutschland etablieren. Vom Streamer ins Kino geschickt: Auch das wird zur neuen Wirklichkeit nach Corona zählen.
Das Kino streamt zurück
»Die Pandemie hat Entwicklungen, die sich schon lange abgezeichnet haben, endlich zum Durchbruch verholfen«, sagt Verena von Stackelberg. Ihre Erfahrungen als Kinobetreiberin bilden die von MUBI quasi spiegelverkehrt ab: 2017 gründete sie das Programmkino Wolf in Berlin-Neukölln und fand mit ihrem Bekenntnis zum Kino als fest in der Stadt verankertem Ort viel Beachtung. Dabei war das Wolf gar nicht als Kampfansage ans Streaming gedacht.
Mit Alfonso Cuaróns späterem Oscar-Gewinner »Roma« nahm man zum Beispiel ausdrücklich einen Netflix-Titel ins Programm. »Große Streaming-Premieren können einem kleinen Kino wie uns viel Aufmerksamkeit bringen«, sagt Stackelberg – vor allem, wenn die Aufführungen mit einer anschließenden Gesprächsrunde einhergehen, mit Expert:innen oder Kreativen.
Zudem wollte Stackelberg von Anfang an eine Streaming-Option beim Wolf anbieten. Doch Plattformen wie Vimeo waren zu unsicher. Seit Februar 2021 streamt das Wolf nun auf seiner Website für eine Leihgebühr von 4,50 Euro pro Film eine kuratierte Auswahl. Gerade ist Katharina Wyss' herausragender Debütfilm »Sarah spielt einen Werwolf« neben dem oscarnominierten »Beasts of the Southern Wild« zu sehen.
Doch es sind nicht die bekanntesten Filme, die am meisten gefragt sind. »Titel, die sonst nirgendwo gezeigt werden, laufen besonders gut«, sagt Stackelberg. Dabei hilft es, dass ihr Kino ein klares künstlerisches Profil hat. »Wenn ein Film aus unserem Streaming-Angebot einen direkten Bezug zu unserem Offline-Programm hat, kann er noch so klein sein: Er findet sein Publikum.«
Investition in die Zukunft
Dass das Wolf nun doch streamen kann, hat es dem Projekt Cinemalovers zu verdanken, einer Art digitaler Infrastruktur für virtuelle Kinosäle. Schon vor der Pandemie konzipiert, ist die Idee von drei Branchenverbänden (Der SPIEGEL berichtete) in diesem Jahr Wirklichkeit geworden: Bundesweit 21 Kinos haben damit bislang ihr Digital-Angebot erweitert.
Obwohl Cinemalovers ein wichtiges Instrument bei der Überbrückung der fast neunmonatigen Kinoschließungen war, gab es keine bundesweite Förderung, nur die HessenFilm Förderung steuert etwas Geld bei. Günstig ist die Lizenzierung von Cinemalovers fürs Wolf deshalb nicht. »Aber das ist eine Investition in die Zukunft, die jetzt einfach gemacht werden muss«, sagt Stackelberg.
Wie ein Kinobetrieb aussieht, der für die Zukunft gerüstet ist, darüber scheint es aber noch unterschiedliche Ansichten in der Branche zu geben. Als Stackelberg Förderung bei der Filmförderanstalt FFA beantragte, unter anderem auch für den Betrieb von Cinemalovers, erhielt sie eine Absage. »Für den Ausbau unserer Website haben wir Geld bekommen, aber für Cinemalovers nicht: ›Wir wollen in Kinos investieren, nicht in Streaming‹, hat es von der FFA geheißen«, so Stackelberg. »Ein aus der Zeit gefallenes Denken, schließlich sind das längst keine Gegensätze mehr.«
»Ein nahezu kultischer Moment«
So lebt es auch Maria Schrader vor. Im September 2020 gewann sie mit der Netflix-Miniserie »Unorthodox« einen Emmy für die beste Regie. Ein halbes Jahr später wird sie mit ihrem dritten Spielfilm »Ich bin dein Mensch« in den Wettbewerb der Berlinale eingeladen. Die melancholische Komödie, in der eine Frau einen ganz nach ihren Bedürfnissen programmierten Androiden als Partner vorgesetzt bekommt, feiert ihre Premiere vor Publikum am 16. Juni auf der Sommer-Berlinale. Danach läuft der Film in mehreren Dutzend Kinos an, ab dem 1. Juli ist er bundesweit zu sehen.
Auch Streamingdienste waren an »Ich bin dein Mensch« interessiert, doch Schrader entschied sich gemeinsam mit ihrer Produzentin für die klassische Auswertung. »Was für Fußballfans der Anpfiff im Stadion ist, ist für mich der Moment, wenn sich im Kino der Vorhang öffnet und der Film beginnt – ein nahezu kultischer Moment«, erzählt Schrader aus ihrem Berliner Homeoffice, wo sie schon ihr nächstes großes Filmprojekt vorbereitet: Die Geschichte der Enthüllung des Weinstein-Skandals.
Zuvor schon als Schauspielerin sehr erfolgreich, ist Schrader seit ihrem zweiten Spielfilm »Vor der Morgenröte« fast noch gefragter als Regisseurin. Mit dem Film über die Exiljahre von Stefan Zweig war sie viel auf Reisen und fühlte sich dem Publikum stets verbunden. »Im Arthouse-Kino begegnen sich Gleichgesinnte, sie teilen im weitesten Sinne einen Begriff von Kultur, Gesellschaft und vielleicht sogar Politik«, sagt Schrader. »Und so sehr ich solche Begegnungen genieße und wichtig finde, kommt einem der Raum manchmal hermetisch und fast inzestuös vor. Dass Film tatsächlich nicht nur geografische, sondern auch religiöse, kulturelle und soziale Grenzen überwinden kann, habe ich erst mit ›Unorthodox‹ erlebt.«
Zu Hause Grenzen überschreiten
Der Vierteiler über eine junge Jüdin, die aus einer orthodoxen Gemeinde von New York nach Berlin flüchtet, war einer der Überraschungserfolge von Netflix im Frühjahr 2020. Die Kritiken waren hervorragend und die Nutzerzahlen, berichtet Schrader, auch. »Selbst im arabischen Raum waren wir in den Top Ten der meistgesehenen Programme und zwar lang.« Aus dieser Ecke der Welt seien auch die eindrücklichsten Reaktionen gekommen. »Unsere Hauptdarstellerin Shira Haas hat Selfies von verschleierten Frauen auf Instagram geschickt bekommen. ›Das ist unsere Geschichte, die ihr da erzählt‘ oder ›Zum ersten Mal weine ich bei etwas Jüdischem‹ schrieben sie dazu. ›Unorthodox‹ hat sehr viele Menschen erreicht, die sich nie im Leben eine Kinokarte gekauft hätten, um so eine Geschichte zu sehen.«
Filmemacherisch habe sie diese Erfahrung vor völlig neue Fragen gestellt. »Unsere Serie hatte ein relativ kleines Budget, keine Stars und handelte von einer Gemeinde, die die wenigsten kennen. Und trotzdem steht sie bei Netflix wie in einem Supermarktregal paritätisch neben einer bombastischen Produktion wie ›The Crown‹. Jeder kann sie finden und sehen. Gibt es in unserem konventionellen Kino-Fördersystem vielleicht ein zu großes Sicherheitsdenken, welche Zutaten für einen erfolgreichen Film nötig sind?«
Schrader will weiterhin sowohl für Streamer beziehungsweise das Fernsehen als auch fürs Kino arbeiten. Aber welche Kinofilme werden in Zukunft überhaupt noch gedreht?
Die neue Nummer sicher
»Wir als Produzenten bekommen die Auswirkungen der Pandemie erst jetzt so richtig zu spüren«, sagt Janine Jackowski. Zusammen mit Maren Ade und Jonas Dornbach ist sie Geschäftsführerin von Komplizen Film, einer der profiliertesten Produktionsfirmen Deutschlands, wenn nicht Europas. Ades Erfolgsfilm »Toni Erdmann« geht auf ihr Konto, ebenso der Auslands-Oscar-Gewinner »Eine fantastische Frau«. Mit den neuen Filmen von Nadav Lapid und Ildikó Enyedi sind sie gleich doppelt im Wettbewerb von Cannes vertreten.
Über den Herbst und Winter 2020 konnte Jackowski zwei Filme drehen, darunter das Prinzessin-Diana-Biopic »Spencer« mit Kristen Stewart in der Hauptrolle. Diese Filme waren aber schon vor Corona durchfinanziert. »Für die Projekte, die jetzt kommen, wird es eng«, sagt Jackowski. Die Budgets der Filmförderer sind zwar konstant geblieben, doch bei den anderen Geldgebern wie den Verleihern oder dem Weltvertrieb haben die Kinoschließungen den Geldfluss komplett unterbrochen. Und wegen der andauernden Gebührendebatte seien die öffentlich-rechtlichen Sender so stark unter Druck, dass sie sich immer stärker aus dem Kino zurückziehen würden, so Jackowski.
Komplizen Film hat sich schon vor Corona diverser aufgestellt: Mit der HipHop-Serie »Skylines« erschien im Herbst 2019 die erste Produktion für Netflix. Über die Zusammenarbeit weiß Jackowski viel Gutes zu berichten, obwohl Netflix auf eine Fortsetzung verzichtete. »Innerhalb von zwei Wochen hatten wir von denen grünes Licht«, sagt sie über die Anfänge. Bei Öffentlich-Rechtlichen würden solche Entscheidungen drei, vier Monate dauern, »wenn die Begeisterung sehr groß ist«. Ansonsten könnte eine Antwort auch noch um einiges länger dauern.
Die schlanken, reaktionsschnellen Strukturen der Streamer sind es denn auch, die Jackowski als Vorbild für die öffentlich-rechtlichen Sender sieht. »Außerdem sollten sie sich vom Ehrgeiz der Streamer eine Scheibe abschneiden, in Sachen Qualität Maßstäbe zu setzen und immer vorneweg sein zu wollen.«
Was es für kulturelle Vielfalt bedarf
Auf die Zusammenarbeit mit ARD und ZDF Komplizen Film trotzdem nicht verzichten. Man schätzt die redaktionelle Betreuung, zudem wird der Konzeption mehr Zeit gegeben. Vier Serien entwickelt Komplizen Film gerade, im Idealfall kommen zwei bei Streamern und zwei bei Öffentlich-Rechtlichen unter. »Bei den Streamern geht es um Entertainment und um neue Abonnenten«, sagt Jackowski. »Für die kulturelle Vielfalt sind die Öffentlich-Rechtlichen und der Kinomarkt absolut notwendig.«
Aber Komplizen Film muss auch wirtschaftlich denken. Die Konsequenz: Man fährt jetzt zweigleisig. »Anspruchsvolles Arthouse-Kino werden wir immer machen«, sagt Jackowski. »Aber wenn wir jetzt in einen Kinofilm investieren, schauen wir sehr genau darauf, welches Potenzial der hat.« Sperrige, experimentelle Stoffe würden nun eher abgesagt, auch wenn das Projekt an sich überzeugt. Auf Nummer sicher zu gehen, sieht Jackowski als Tendenz in der gesamten Branche, »obwohl jeder weiß, dass es im Kino diese Nummer sicher eigentlich nicht gibt und wir inhaltlich mutige Filme brauchen«.
Bei aller Aufbruchsstimmung ist deshalb noch nicht abzusehen, wie sich das neue Nebeneinander längerfristig ausbalanciert. Und eine Herausforderung ist dabei noch gar nicht angegangen: »Wir müssen das junge Publikum, die Generation TikTok für das Kino zurückgewinnen«, sagt Jackowski.
Erste Gespräche in der Branche, zwischen Produktion, Förderung, Verleih und Kinobetreiber:innen, gibt es dazu schon. Wenn die Pandemie eine Erkenntnis zu der Diskussion beigesteuert hat, dann ist es wohl: Streaming und Kino wird es in Zukunft nur noch gemeinsam geben.
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